Mit AWalkingArchive wollen wir den Vernetzungen eines Ortes in Raum und Zeit folgen und unerzählte, vergessenen oder marginalisierten Geschichten an die Oberfläche verhelfen. Ausgehend von unserem Hier und Jetzt wollen wir uns auf eine Spurensuche begeben und in die Vergangenheit dieses Hauses und seiner Bewohner:innen eintauchen, ihnen folgen und sie mit aktuellen Pfaden verknüpfen. AWalkingArchive ist ein medienarchäologisches Projekt, indem der Schwerpunkt zunächst auf analogen Bergungspraktiken liegt: Ausgraben und Erinnern. Das kann die Sichtung und Aufarbeitung alter Dokumente (Fotos, Plakate, etc.) betreffen, wie auch das topographische sortieren jüngerer (Video-)Posts oder das Produzieren von Tonspuren oder gegenwärtigen Momentaufnahmen.

Unser Projektraum befindet sich in einem Ladenlokal in der Oranienstr. 45, das einst einen Juwelier beherbergte, danach das politisch links ausgerichtete Anti-Quariat. 1980 besetzt, ist die O45 heute ein Mietshaus in Selbstverwaltung. Hier leben einstmalige Instandbesetzer sowie Zugezogene und junge Familien. Bis heute überlagern sich hier verschiedene Ansätze von Kollektivität, Raumnutzungideen und urbaner Praxis. Das Haus beherbergt auch die Bilgisaray, eine offene Kiezküche, in der Geflüchtete, Berliner*innen, Aktivist*innen von überall zusammen treffen und als Kollektiv Ideen zu nachhaltigem Leben erproben.
Die Geschichte dieses Hauses ist besonders, aber auch exemplarisch lesbar für viele andere in Kreuzberg, Berlin, Deutschland und Europa. Folgen wir den Wegen und Erzählungen der Bewohner*innen und Besucher*innen dieses Hauses, werden wir den uns vertrauten mitteleuropäischen Raum jedoch mitunter verlassen und ganz anderen Erzählungen von Raumnahme und -verlust konfrontiert sein. Wie schreiben sich diese Migrationswege in unsere gemeinsame Stadtstruktur ein? Und welche Geschichten bleiben auf der Strecke?

Instand-Besetzer-Post Nr.20 – 25.08.1981 – TUWAT (Beilage)
(c) www.archivtiger.de

Der Stein vom O-Platz (1986)

AWalkingArchive ist gleichzeitig ein Versuch operativen Archivierens, eine kritische Beobachtung des medialen Paradigmenwechsel vom Objekt zum Prozess. Der „Stein vom O-Platz“, den uns Udo, der linke Anti-Quar hinterließ als er uns den Raum übergab, erzählt die Geschichte einer objektbasierten Erinnerungskultur, deren Übergang in einen anikonischen Bildfluß gestreamter Protestaktionen beispielsweise gegen die Räumung des Geflüchtetencamps auf dem O-Platz vom April 2014 nur bruchstückhaft dokumentiert erscheint. Auf welcher Basis, in welchem Medium können Stein und Stream eine gemeinsame Plattform finden?

Dieser Frage wollen wir mit der augmented[archive] App von Kaya Behkalam nachgehen. Gemeinsam mit Kaya werden wir die bereits existierende App auf unsere spezifischen Bedürfnisse anpassen. Sie ist in erster Linie Werkzeug und Instrument, das es uns ermöglichen soll verschiedene Topographien und unterschiedliche Zeitwahrnehmungen beider Erinnerungskulturen zu kallibrieren. Die Möglichkeit, über die App eine geteilte Raumzeit zu generieren, in dem bspw. der Stein mit den Protestvideos in einer Überblendungsanordnung erscheint, sobald Nutzer:innen den Ort des Geschehens aufsuchen, ermöglicht es, die Sukzession von Erinnerungen zu befragen, zu archivieren oder zu verwerfen. Hörstücke, Interviews oder Atmos können die Collage erweitern. In einem weiteren Schritt, wollen wir den Fokus der Betrachtung noch ein Stück weiter öffnen. Lassen sich verschiedene Orte des Protestes überlagern um bspw. so etwas wie eine topographische Verschlagwortung zu erreichen? Können Plätze und ihre Aufstände etwas über die Stadt, ihre Geschichte, ihre sozialen Spannungen erzählen? Haben beispielsweise der Tahrirplatz und der Oranienplatz einen gemeinsamen Resonanzraum? Und unter welchen Bedingungen kann eine solche transkulturelle Verschaltung funktionieren?

Ein Projekt von DasBuchprojekt (2023) in Zusammenarbeit mit Kaya Behkalam, Rim Naguib, Ahmad Ghabaira und Sophia Paeslack gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds.